Apr 17 2021
Abgelaufen!
17:00 - 19:00
5,00€

Lust an der Grenze

Liebe Teilnehmer und Interessenten,

die nächste Sitzung dieses Seminars findet am Samstag, 17. April 2021 nur via ZOOM statt.
Wer teilnehmen möchte, melde sich per E-Mail an
(neue Adresse! Seminar-RathCD@t-online.de).

Sie erhalten wenige Tage vorher eine Einladung mit einem Teilnahmecode.
Die Veranstaltung beginnt 17.15h. Sie können sich aber schon ab 17.00h einklinken.

Samstag 17. April 2021 (17.15h – 19h):
Claus-Dieter Rath: Schmutzlust und sauberes Sprechen. Unlike.

Wie „sich die Kulturmenschen heute mit dem Problem ihrer Leiblichkeit auseinandersetzen,“ offenbart sich der psychoanalytischen Arbeit auf eigene Weise. „Sie werden offenbar durch alles geniert, was allzu deutlich an die tierische Natur des Menschen mahnt“. Da vollendete Reinlichkeit oder reine Vollendung ihnen verwehrt blieben, hätten sie „den Ausweg gewählt, diesen unbequemen Erdenrest möglichst zu verleugnen, ihn vor einander zu verbergen, obwohl ihn jeder vom anderen kennt,“ schreibt Sigmund Freud 1913.
Den Erfinder der Psychoanalyse interessiert, „welche Folgen für die Kultur diese Behandlung des »peinlichen Erdenrestes« mit sich gebracht hat, als dessen Kern man die sexuellen und die exkrementellen Funktionen bezeichnen darf“ (Freud 1913, S. 453f.). Es kommt zu Reaktionsbildungen, Verdrängungen; Symptome entstehen, die als ›faule Kompromisse‹ per Definition schmutzig sind.
Ritualisierte Sicherungsmaßnahmen artikulieren sich kollektiv – in Erziehungsmaximen, Ausführungsordnungen, ›Religionsübungen‹ und Hygienevorschriften – oder individuell, etwa im „peinlichen Wasch- und Reinlichkeitszwang“ des Zwangsneurotikers. Angst- und Ekelgefühle und das Streben nach Läuterung koexistieren mit allerlei verpönten Lustpraktiken und -phantasien, die höchstens bei ›ordinärem Volk‹ sich äußern dürfen.
Was hieße hingegen eine Sublimierung der betreffenden Triebwünsche? Freud meint ja zu diesem „unbequemen Erdenrest“: „Es wäre gewiss vorteilhafter gewesen, sich zu ihm zu bekennen und ihm so viel Veredlung angedeihen zu lassen, als seine Natur gestattet.“ Er sei doch „integrierender Bestandteil ihres Wesens“ (Freud 1913, S. 453f.).
Reiches Anschauungsmaterial über den Umgang mit „diesen verpönten Seiten des Menschenlebens“ findet Freud in den Forschungen von Folkloristen und Ethnologen. So liefert er 1913 ein Geleitwort zu der deutschen Ausgabe der Studie von John Gregory Bourke Der Unrat in Sitte, Brauch, Glauben und Gewohnheitsrecht der Völker (Original USA 1891). Es handelt von Wertungen und Umwertungen bei der Grenzziehung zwischen rein und unrein.

Jede Kultur scheint das für ›unrein‹ Erachtete zu verwerfen und das Saubere, Pure, Unverfälschte, Ganze zu idealisieren. Substanzen (und Vorstellungen) werden als reines oder unreines, gutes oder schlechtes Objekt bzw. abject klassifiziert und sorgfältig isoliert (vgl. Mary Douglas [1988/1966]: Reinheit und Gefährdung). ›Reinheit‹ bezeichnet die Qualität eines Objekts, ›Reinlichkeit‹ hingegen den Umgang mit Zuständen, Handlungen und Auswirkungen der Verunreinigung. Sie kann Ausmaße einer Phobie, einer totalen Überwachung und der Sterilisierung des Lebens annehmen. Vom ›Unreinen‹ geht Kontaminationsgefahr aus: Keime, Viren, Erreger und Erregendes. Der ›Unreinliche‹ missachtet die ästhetischen Standards; bisweilen genießt er – als Schmutzfink oder Dreckschwein – sogar den Ekel seiner Mitmenschen. Zu den Metaphern, die den Ausschluss aus einer Gemeinschaft legitimieren sollen, gehört der „Nestbeschmutzer“; und wer eliminiert werden soll, sieht sich manchmal als „Schmutz“ identifiziert.
Die Beschmutzung folgt aus Berührungen, Ablagerungen und Vermischungen, die ein Objekt nicht veredeln, sondern seinen Wert und sein Ansehen mindern oder seine Existenz beeinträchtigen (wie die giftigen Wirkungen von Spuren des Bösen im Guten). Schmutz kann auch das Ergebnis eines Zersetzungsvorgangs sein.

All unsere Stoffwechsel- und Verkehrsverhältnisse sind mit Schmutz behaftet: die Atemluft, die Umwelt, Ernährungs- und Ausscheidungsvorgänge, die Sexualität, die Arbeit, die Finanzen, die Geselligkeit, das Mobiliar, die Literatur, die Leinwand, die Seele, die Ehre und die saubere Weste, … bis hin zum „reinen Gold der Analyse“ (Freud 1919). Und jeder dieser Bereiche kennt spezifische Abwehrmaßnahmen, Leugnungen und Reinigungsverfahren.

Vom Ideal her ergibt sich ein Konflikt zwischen narzisstischem Genießen (Befolgung der Reinheitsideale) und dem körperlichen Genießen des Schmutze(n)s, ja dem Eros überhaupt: „Der Eros will die Berührung, denn er strebt nach Vereinigung, Aufhebung der Raumgrenzen zwischen Ich und geliebtem Objekt.“ (Freud: Hemmung, Symptom und Angst, GW 14, S. 152)

Die Körperöffnungen sind Einfallstore des Unreinen; und an ihren Rändern lagert sich Schmutz an. Sie werden durch ihre Betätigung bei der Einfuhr oder der Ausfuhr (und schon durch die frühen Reizungen bei der Körperpflege des Babys) zu einer Quelle von Lüsten, die sich als aktive und passive, als nach außen gewandte oder gegen sich selbst gerichtete Triebschicksale oder als Reaktionsbildungen zeigen können.
In Größerer Versuch über den Schmutz paraphrasiert Christian Enzensberger (1968) jemanden: „Zum Schmutz gehöre immer so etwas wie Gezupf und Betaste, eine Befingerung, ein Kitzel, und diese eigentümliche Erscheinung nenne er zuletzt, denn sie sei dem Schmutz verwandt: beide ein erstes, leises, und gerade deswegen so fühlbares Anrühren der Ordnung.“ (S. 32f.)
Die Körperöffnungen der Menschen entsprechen Grenzanlagen, deren Schließmechanismen von Kontroll- und Urteilsinstanzen bestimmt werden: beriechen, betrachten, befühlen usw. Anhand der oralen Einverleibung (besonders der Nahrung) illustriert Freud die Scheidung gut/schlecht (vgl. Freud: Die Verneinung) und am analen Paradigma der Ausscheidungspraktiken (besonders des Kots) die Scheidung rein/unrein.
Mit jeder dieser erogenen Grenzzonen sind Forderungen, Versagungen, Verweigerungen verknüpft, die an andere gerichtet sind oder vom Anderen kommen. Karl Abraham, Sigmund Freud und andere haben daraus je spezifische Charakterzüge abgeleitet.
Wenn das Lacan’sche Begehrensobjekt, das Objekt a (Brust, Kothäufchen, Stimme, Blick) etwas Verlorenes, vom Körper Abgetrenntes, ein Rest, ist, ist das Schmutzige dann die Rest-Spur eines solchen Restes?
Eine der Körper-Grenzanlagen soll verhindern, dass unpassende Worte entschlüpfen. Wer ein schmutziges Wort im Mund führt, wer lästerliche Reden führt, wer andere mit beißendem Spott verletzt, wird verwarnt: Wash your mouth with soap.
Sauberes Sprechen ist eine pathologische Form des ›Guten Tons‹: sie meidet nicht nur tabuisiertes Vokabular (politisch unkorrekte Sprache), sondern übt sich im Banalisieren und Verharmlosen. Jacques Lacan prägte den Begriff ›leeres Sprechen‹ (parole vide). Das saubere Sprechen verwirft die Mehrdeutigkeiten der Sprache (und damit der Deutungsmöglichkeiten) und sträubt sich damit gegen Annäherungen an das Verdrängte bzw. an das von Freud und von Lacan so genannte Ding (la chose). Seine Belanglosigkeit soll verhüten, dass man in seiner Subjektivität belangt werden kann. In ihr meldet sich der „zur Auflösung des Lebenden führende[…] Destruktionstrieb“.
Auch der Drang zur Semiotisierung unserer Welt gehört zu den kulturellen Säuberungstechniken, wenn damit alles mit einer eindeutigen Bezeichnung versehen und schließlich alles Begehren sterilisiert werden soll. Je mehr das Leben der Menschen in keimfreie Zeichen gefasst, in Systeme gezwängt und in zahllose Sub-Ordnungen aufgefächert wird, desto umfangreicher wird der Bereich der Schmutzgrenzen. Diese Ausdehnung der narzisstisch besetzten Oberfläche vermehrt die Ansatzpunkte der paranoischen Abwehr – auch kollektiver Art.

Wie umgehen mit dem, was unlike – d.h. anders(artig) oder untypisch – anmutet, und mit denjenigen, die Andersartigkeit für sich beanspruchen?

Zur Lektüre empfohlen:
– Douglas, Mary (1988/1966): Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, (Übers. B. Luchesi) Frankfurt a.M. (Suhrkamp); bes. Kap. 7 „Äußere Begrenzungen“, S. 151-169
– Enzensberger, Christian (1968/2011). Größerer Versuch über den Schmutz. München: Hanser.
– Freud, Sigmund (1913): Geleitwort zu Der Unrat in Sitte, Brauch, Glauben und Gewohnheitsrecht der Völker von John Gregory Bourke. GW 10, S. 453-455.
Auch in J.G. Bourke: Das Buch des Unrats. Frankfurt a.M. Eichborn Verlag 1992, S. 5-8.
– Freud, Sigmund (1925h): Die Verneinung. GW 14, S. 11-15; StA 3, S. 371-376
– Freud, Sigmund (1933): Vorlesung „Angst und Triebleben“. GW XV; zu den Sexualtrieben bes. S. 106-109 (StA 1, S. 531-535)
– Rath, Claus-Dieter (2013): Der Rede Wert. Psychoanalyse als Kulturarbeit. Wien/Berlin (Turia+Kant). darin bes. Kap. „Riech-Lust. Zu Freuds ›organischer Verdrängung‹ des Geruchssinns“, S. 139- 156.

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Die Teilnehmer dieses Seminars erkunden die Funktion von Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen, wie sie sich in der psychoanalytischen und politischen Erfahrung darstellen.
Dazu gehören folgende Fragen: Wenn heute allenthalben Grenz-Spektakel inszeniert werden, vermag die Psychoanalyse das darin wirkende Begehren und Aufbegehren zu erhellen und Zusammenhänge etwa mit Problematiken des Körper-Ichs und der Besetzung erogener Randzonen zu erkennen? Wie funktioniert psychisch das Abgrenzen, Ausgrenzen und Eingrenzen, Isolieren, Eindämmen in Neurose, Psychose, Perversion? Und wie das Umschlagen von Lust/Unlust und Schmerz? Von Bindung und Entbindung? Was bewirken die unterschiedlichen Formen der Verwerfung? Wie kann – „Lust an der Grenze“ – plaisir die überbordende jouissance eindämmen?

Gelingt es uns, Beziehungen darzustellen zwischen der psychischen Organisation und
– dem propagandistischen Schreckensbild offener Grenzen, in deren Folge die einheimische Bevölkerung und ihre Kultur in einer Migrantenflut umkommen sollen,
– subjektiven und kollektiven Identifizierungszwängen, den Politiken der Andersartigkeit, dem Beschwören einer besonderen Gruppen-Identität und einer diffusen Sehnsucht nach Souveränität,
– Globalisierungsangst, Entgrenzungssehnsucht und die Wirksamkeit von Befreiungsversprechen, die zur Einschließung in Kommunikations- und Zeichensysteme verführen,
– der Faszination am Niederreißen von Grenzen oder an (kalkulierten, provokativen, kopflosen) Grenzüberschreitungen,
– der Koexistenz von Gefühlsrohheit und höchster Sensibilität im Narzissmus der kleinen Differenzen,
– der Aufhebung von Grenzkontrollen oder deren Wiedereinführung (auch bezüglich sprachlicher und sittlicher Korrektheit oder ästhetischer und ökologischer Richtwerte und Normen)?
Wie werden diese Prozesse in kollektiven und individuellen Mythen transportiert? Welche Rolle spielen dabei Sprache, Topologie (mit ihren Schranken und Knotungen) und Sexualität?
Studieren wir auch die Grenze als Verbindende, also den Grenzverkehr zwischen den „Reiche[n], Gebiete[n], Provinzen, in die wir den Seelenapparat der Person zerlegen“ (Freud: Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, GW XV, S. 79).
„Normalerweise ist uns nichts gesicherter als das Gefühl unseres Selbst, unseres eigenen Ichs. Dies Ich erscheint uns selbständig, einheitlich, gegen alles andere gut abgesetzt. Dass dieser Anschein ein Trug ist, dass das Ich sich vielmehr nach innen ohne scharfe Grenze in ein unbewusst seelisches Wesen fortsetzt, das wir als Es bezeichnen, dem es gleichsam als Fassade dient, das hat uns erst die psychoanalytische Forschung gelehrt, die uns noch viele Auskünfte über das Verhältnis des Ichs zum Es schuldet. […]
Die Pathologie lehrt uns eine große Anzahl von Zuständen kennen, in denen die Abgrenzung des Ichs gegen die Außenwelt unsicher wird, oder die Grenzen wirklich unrichtig gezogen werden; Fälle, in denen uns Teile des eigenen Körpers, ja Stücke des eigenen Seelenlebens, Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle wie fremd und dem Ich nicht zugehörig erscheinen, andere, in denen man der Außenwelt zuschiebt, was offenbar im Ich entstanden ist und von ihm anerkannt werden sollte. Also ist auch das Ichgefühl Störungen unterworfen und die Ichgrenzen sind nicht beständig.“
Freud (1929): Das Unbehagen in der Kultur, GW XIV, S. 423f.
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Die weiteren Samstagstermine (immer 17-19h, alle via ZOOM, evtl. hybrid) sind voraussichtlich

8. Mai: Die heilsame Erschaffung/Erfindung einer schrecklichen Grenze in der Psychose.
Beitrag von Gabrielle Gimpel (Toulouse)
19. Juni: Operationen am Auge. Vom Einbruch des Realen und der Arbeit an seinen Eingrenzungen.
Beitrag von Britta Günther (Hamburg)
—- Juli und August Sommerpause —-
4. September: Verleugnete Spuren – Spuren der Verleugnung.
Beitrag von Heiko Mussehl (Berlin)

Teilnahmegebühr: Wer nicht Mitglied der Freud-Lacan-Gesellschaft (FLG) ist, bezahlt 10€ pro Sitzung (Studenten u. Arbeitslose 5€).
Hier die Bankverbindung der FLG:
IBAN: DE67 1004 0000 0572 7128 00
BIC: COBADEFFXX (Commerzbank Berlin).

Freud-Lacan-Gesellschaft (www.freud-lacan-berlin.de; auch in facebook)
Das aktuelle Programm auf der Internetseite unter „Arbeitsgruppen & Seminare“

Kontakt: Claus-Dieter Rath, Niebuhrstr. 77, 10629 Berlin
(neue mail-Adresse: Seminar-RathCD@t-online.de)